›gut‹ ist, sondern für das, was ›schlecht‹ ist, d.h. die Einstellung ist von vornherein eine der kritischen Analyse von Problemen. (...) ...es ist eine kritische Analyse dessen was ›schlecht‹ ist, ausbeuterisch, verfälschend. Wir haben untersucht, was unwahr ist. Ideologiekritik heißt im Grunde genommen (...) das aufzeichnen, was schief ist, falsch ist. (...) die Kritik besteht eben in dieser bestimmten Negation; das kritische Denken spielt sich in einem Rahmen ab, in dem das Ganze kritisiert wird."3

Der Roman noir ist ein kritisches Projekt, das zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit changiert. Das Moment der Hoffnung, das in den französischen Romanen ein größeres Gewicht hat, als in der Kritischen Theorie, kann zum einen aus der unterschiedlichen Generationserfahrung erklärt werden, zum anderen aber verweist es auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen beiden linken Versuchen, über die gescheiterte Emanzipation nachzudenken: Wo die Kritische Theorie methodisch auf den dialektischen Materialismus rekurriert, um die Aporie der Aufklärung verständlich zu machen, wird im roman noir Geschichte diskursiv verhandelt. Geschichte ist in ihm grundsätzlich offen konzipiert. Indem einzelne Figuren oder Autoren dieselben geschichtlichen Konstellationen unterschiedlich einschätzen, einigen sie sich auf die gemeinsame Basis, dass der geschichtliche Prozess nicht auf überindividuelle Prozesse verweist, sondern dass das Resultat einer gegebenen historischen Situation unvorhersehbar ist und unterschiedlich interpretiert werden kann. Auf diese Weise setzt der roman noir das erkennende und handelnde Subjekt, wie deformiert es durch die Verhältnisse auch sein mag, wieder in sein Recht als eigentlichen Protagonisten der Geschichte.

Das vom Roman noir wieder rehabilitierte beschädigte Subjekt ist auch der Kritischen Theorie als nicht unbedingt handelndes, aber erkennendes Subjekt von zentraler Bedeutung. Das kritische Individuum und der "unverdinglichte Rest" in der Kunst bleiben die einzigen Hoffnungsträger. Doch im Gegensatz zur Kritischen Theorie hat auch der traurigste und pessimistischste roman noir einen positiven Bezug. Sah die Kritische Theorie auf Grund des Vormarsches des Stalinismus die Emanzipation als gescheitert an und das historische – handelnde – Subjekt durch den Sieg des Nationalsozialismus als erledigt, politisierten sich viele der Autoren des roman noir in der Mairevolte von 1968. Zwar ist auch dieser Aufstand gescheitert, aber dennoch – er hat stattgefunden. Der roman noir, der mit diesen Autoren entstand, reflektiert diese enttäuschte Hoffnung. Die Ereignisse von 1968 bilden die Folie, vor der die eigene Geschichte als politische und persönliche Niederlage interpretiert wird.

Walter Benjamin forderte vom materialistischen Historiker, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten und sich bewusst zu sein, "dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist". Wenn es im roman noir ein Moment der Hoffnung gibt, dann paradoxerweise in dieser unbewussten Entsprechung zu Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen. Bei seiner Deutung des Bildes von Paul Klee namens Angelus Novus hatte Benjamin den Aufstieg des Faschismus vor Augen. Der Engel auf diesem Bild hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet und überblickt mit Grauen die Geschichte, die sich ihm als Aneinanderreihung von Katastrophen darstellt. Das, was Fortschritt genannt wird, ist ihm eine Kette verlorener Schlachten. Dem roman noir ist dieser Blick auf die Geschichte nicht fremd. Auch er sucht in den verlorenen Schlachten, die die Hoffnung der Aufklärung auf eine vernünftige und dem Menschen entsprechende Welt zu verwirklichen suchten, die Gründe für das Fortdauern der Gräuel in der Gegenwart.

1 Cf. Enzo Traverso, L'histoire déchirée. Essai sur Auschwitz et les intellectuels. Les Editions du Cerf, Paris 1997 et Enzo Traverso, Siegfried Kracauer. Itinéraire d'un intellectuel nomade. Editions La Découverte, Paris 1994. Adornos Ästhetische Theorie erschien bereits 1974 in französischer Sprache, Benjamins Passagen-Werk allerdings erst 1989.

2 Foucault/Roulet, Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? Ein Gespräch. Spuren 1/1983, p. 24.

3 Leo Löwenthal und Frithjof Hager, Gespräche. Geschichte denken. Ein Notizbuch für Leo






Elfriede Müller
Historikerin, Ko-Autorin – mit Alexander Ruoff – von "Le polar français – crime et histoire" (La fabrique éditions, 2002) in dem die Verbindung zwischen Französischem Krimi und Frankfurter Schule hergestellt wird.


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Projektleitung
Katrin Schielke
BBI – Berlin-Brandenburgisches Institut für
deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa e.V. Im Schloss
14974 Genshagen
03378 805914 / 31
schielke@bbi-genshagen.de www.bbi-genshagen.de

Spexial No. 2.
Beiträge zur Kriminalliteratur

Ein Service der Alligatorpapiere.

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"Krimis in Deutschland und Frankreich – Spiegel der Gesellschaft?"

Tagung vom 21. bis zum
23. November 2003
im BBI im Schloss Genshagen





Inhalt

S. 1 Bericht über die Tagung
Eine Zusammenfassung
Von Matthias Drebber

S. 2 Vom Wende-Krimi zur Krimiwende.
Berlinkrimis der letzten Jahre.
Von Christian Jäger

S. 3 Roman noir : Geschichte und Verbrechen
Von Elfriede Müller

S. 4 Grundzüge einer historischen Gattungsbestimmung der "Kriminalliteratur"
Von Burkhardt Wolf

S. 5 Les Premiers Auteurs français du roman noir
Von Claire Gorrara

S. 6 Krimis in der DDR – Agitprop?
Von Wolfgang Mittmann

S. 7 Regionalkrimis
Von Reinhard Jahn

S. 8 Du Détective privé au détective public.
Von Raphaël Villatte

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Tagungsleitung:
Katrin Schielke
Esther Strätz
Pauline Sauzay

Nächste Tagung:
3. + 4.Dezember 2004
Deutsch-französisch-polnisches Krimitreffen
in Genshagen im Berlin-Brandenburgischen Institut für deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa e.V.
Informationen: Katrin Schielke/Céline Chanclud 03378805928/14






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