Die Alligatorpapiere


Ulrich Kroegers Krimitipp

Die Krimikolumne
4/2009


krimijahrbuch2009 Über den Krimistandort Deutschland informiert das beim Bielefelder Kleinverlag Pendragon erschienene "Krimijahrbuch 2009" (359 Seiten, 12,90 Euro). Das von Christina Bacher, Ulrich Noller und Dieter Paul Rudolph edierte Taschenbuch blickt aufs zurückliegende Krimijahr zurück und enthält vieles, was auch übermorgen noch von Interesse sein dürfte. Etwa Henrike Heilands Gespräch mit Sebastian Fitzek zum Thema Krimimarketing ("Ich hab� das einfach gemacht!") und Ulrich Nollers Lucie-Klassen-Porträt "Leben und Schreiben in Bad Pyrmont". Auch Autoren wie Frank Göhre ("Der ostfriesische Melker und die Mutter der Ich-Erzählerin"), Peter J. Kraus ("Weit Weg Lügt Sichs Gut") und Pieke Biermann ("Von denen Mördern und Leichenfotografen") sind vertreten. Dem Österreicher Manfred Wieninger ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Texte zu Jugendkrimis, dem Krimi international und Nachrufe runden das Angebot ab. Leider fehlt ein Register, und auch ein sorgfältiges Lektorat hat offenbar nicht stattgefunden � schade. Nichtsdestotrotz: Kaufen und lesen!

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schenkel-bunker.jpg Das gilt auch für Andrea Maria Schenkels "Bunker" (Nautilus, Hamburg 2009, 122 Seiten, 12,90 Euro), obwohl das neue Buch der "Tannöd"- und "Kalteis"-Autorin durchaus seine Schwächen hat. Anders als bei den auf historischen Fällen beruhenden Geschichten der ersten beiden Romane haben wir es nun mit reiner Fiktion zu tun. Die Regensburger Autorin (Jahrgang 1962) erzählt erneut mehrstimmig, verschränkt unterschiedliche Erzählstränge und arbeitet mit permanenten Zeit- und Perspektivwechseln. Etwas flach sind aber das Personal und der im Grunde simple Plot geraten: Ein Mann entführt eine Frau und hält sie in einer leer stehenden Mühle gefangen. "Ich bin das Versuchskaninchen einer neuen perversen Fernsehserie (...) Was macht jemand, entführt, eingesperrt in einen Raum?" beschreibt die Frau ihre Situation. Spannend macht das Ganze erst die sukzessive psychologische Ausleuchtung des Geschehens: Wie die Biographien der Protagonisten auf vertrackte Weise die Gegenwart beherrschen und die Täter/Opfer-Konstellation ins Schwimmen bringen, macht bei allen sprachlichen Holprigkeiten die Stärke des Buches aus.


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kirino-TeufelskindWie aus Handlung ein Psychogramm entsteht, demonstriert die Japanerin Natsuo Kirino (Jahrgang 1951) in ihrem Roman "Teufelskind" (Goldmann, München 2008, 222 Seiten, 17,95 Euro), der 2004 unter dem Originaltitel "I'm sorry, mama" in Tokio erschien. Das Buch porträtiert eine 40-jährige Frau, deren Aggressionspotenzial schaudern lässt: Scheinbar grundlos bringt Aiko Menschen um und zieht eine breite Blutspur durch den Roman. Erst nach und nach wird das Ausmaß der Traumatisierung deutlich, die Aikos Gewaltexzessen zugrunde liegt: Als Hurentochter war das Kind im Bordell wie im Waisenhaus permanenter Gewalt und Erniedrigungen ausgesetzt. Statt als Persönlichkeit zu reifen, wuchs eine seelenlose Psychopathin heran, für die ein Menschenleben nicht mehr Bedeutung hat als ein krabbelndes Insekt. Auch wenn die Autorin kein Erbarmen kennt, wenn es um die Schilderung von Grausamkeiten geht: "Teufelskind" will den Leser nicht um billiger Effekte willen schocken, sondern wirft einen gnadenlosen Blick auf die Schattenseiten der japanischen Gesellschaft, gerade auch was die Rollenverteilung der Geschlechter betrifft.


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kerr-Das-letzte-Experiment Ein historischer Thriller muss Geschichte nicht abbilden � ein historisches Tableau kann auch lediglich dazu dienen, die Fiktion plausibler zu machen. Nur sollte ein Autor nicht versuchen, seiner Erfindung den Schein von Faktizität zu verleihen � wie der Brite Philip Kerr (Jahrgang 1956) dies im Nachwort zu "Das letzte Experiment" (Wunderlich, Reinbek 2009, 462 Seiten, 19,90 Euro) getan hat. In dem 2008 in London ("A Quiet Flame") erschienenen Buch begegnen wir Bernhard Gunther aus der "Berlin-Trilogie" (Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2007, 1072 Seiten, 10 Euro) wieder. Das ehemalige SS-Mitglied emigriert im Jahre 1950 nach Argentinien. In Buenos Aires befindet er sich in der Gesellschaft prominenter Nazis, denen Perón trotz ihrer Beteiligung am Holocaust Unterschlupf gewährt. Einer von ihnen mordet offenbar weiter � junge Mädchen sind jetzt die Opfer. Gunther lässt sich von der Polizei als Spitzel anheuern und entdeckt, dass auch Juden wieder verschwinden ... Wie gesagt: "Das letzte Experiment" ist kein Geschichtsbuch, nur ein packend geschriebener Thriller. Aber das ist ja auch etwas. ulrichkroeger-krimi-tipp


chandler-meistererzaehlungen Zum Abschluss bleibt noch eine Neuauflage unseres Lieblingsautors zu vermelden: Diogenes hat fünf der besten Short Stories Raymond Chandlers ("Gefahr ist mein Geschäft", "Erpresser schießen nicht", "Spanisches Blut", "Nevada-Gas", "Perlen sind eine Plage") als preiswertes Taschenbuch ("Meistererzählungen", Zürich 2009, 343 Seiten, 9,90 Euro) neu aufgelegt. Intensiv, hart und mit hohem Tempo wie in den Philip-Marlowe-Romanen erzählt Chandler (1888 � 1959) von kleinen und großen Verbrechern � und seiner Stadt, Los Angeles. "Erpresser schießen nicht" ("Blackmailers Don't Shoot", 1933), Chandlers Debüt als Kriminalschriftsteller im Pulpmagazin "Black Mask", zeigt zwar noch nicht die stilistische Brillanz des späteren Romanautors. Aber auch hier schon gelingt es dem in Großbritannien aufgewachsenen Autor, mit wenigen Sätzen Atmosphäre zu schaffen. Chandlers Themen sind zudem stets zeitlos: Es geht um Freundschaft, Habgier, Liebe � und Alkohol ist natürlich auch immer im Spiel. � "'Was ist denn eine College-Ausbildung so wert heutzutage?' 'Drei Mahlzeiten pro Tag und eine Uniform'", heißt es in "Gefahr ist mein Geschäft" ("Trouble Is My Business", 1939) � wie sich die Zeiten doch gleichen.

krimijahrbuch2009 Christina Bacher, Ulrich Noller und Dieter Paul Rudolph:
Krimijahrbuch 2009.

Bielefeld, Pendragon Verlag, 2009
359 Seiten, 12.90 Euro

schenkel-bunker.jpg Andrea Maria Schenkel:
Bunker

Hamburg, Edition Nautilus Verlag, 2009
122 Seiten, 12.90 Euro

kirino-Teufelskind Natsuo Kirino:
Teufelskind.

München, Goldmann Verlag, 2008,
222 Seiten, 17.95 Euro

kerr-das-letzte-experiment Philip Kerr:
Das letzte Experiment.

Reinbek, Wunderlich Verlag, 2008,
462 Seiten, 19290 Euro

chandler-meistererzaehlungen Raymond Chandler:
Meistererzählungen.

Zürich, Diogenes Verlag, 2008,
343 Seiten, 9.90 Euro

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Ulrich Kroegers Krimitipp
Eine Kolumne

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Ulrich Kroegers erster Krimitipp erschien erschien Anfang 2001. Damals war in Bremerhaven Kriminalliteratur – zumindest in der Zeitung – kein Thema, und niemand dachte daran, eine auf Dauer angelegte Kolumne zu etablieren. Es kam zum Glück anders. Heute erscheint Ulrich Kroegers Krimitipp einmal im Monat im Sonntagsjournal der "Nordsee-Zeitung", dessen Redaktion wir für die Genehmigung zur Veröffentlichung und Archivierung bei den Alligatorpapieren danken. Zum Konzept der Kolumne gehört, dass auf Verrisse zugunsten von Leseempfehlungen verzichtet wird. Zudem beschränken sich die Besprechungen in der Regel auf Taschenbücher und Paperbacks, einer publizistischen Tradition des Kriminalromans folgend und eingedenk der begrenzten finanziellen Spielräume vieler Leser – nicht nur in einer von Arbeitslosigkeit gebeutelten Hafen- und Industriestadt.

Der Autor, Jahrgang 1956, Studium (Politologie, Sozialwissenschaften, Geschichte) in Braunschweig und Bremen, arbeitete als Produktionshelfer, Nachhilfelehrer, Sozialarbeiter und fristet seit Mitte der 90er Jahre als freier Journalist und Redakteur sein Dasein. Er liebt die Küste, hört "WBGO Jazz88.3 FM," trinkt Scotch, spielt Mah Jongg und fiebert für Werder. Doch die meiste Freizeit verbringt er mit – na, Sie wissen schon!
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