ņoz und Jürgen Schild

Versierte Krimileser kennen inzwischen jeden britischen Pub, jedes US-amerikanische Motel, jeden skandinavischen Grashalm und natürlich jeden Schleichweg durch die bundesdeutsche Provinz. Aber wie sieht es mit dem Rest der Welt aus? Schlecht; wenn nicht Thomas Wörtche mit der von ihm im Unionsverlag herausgegebenen Krimireihe seit Jahren erfolgreich Pionierarbeit leisten würde und er inzwischen einige Nachahmer gefunden hat.

Algerien: Ein Polizist erzählt

Yasmina Khadras neuester Roman "Nacht über Algier" erschien jetzt im Aufbau-Verlag.
Bekannt wurde er (für die, die es nicht wissen: Yasmina Khadra ist das Pseudonym des algierehemaligen algerischen Polizisten Mohammed Moulessehoul) bei uns, als die Taschenbuch-Ausgabe seiner Brahim Llob-Trilogie im Unionsverlag erschien. Jetzt kehrte Yasmina Khadra nach einigen Mainstream-Romanen wieder zu seinem ersten Helden zurück.
Chronologisch spielt "Nacht über Algier" vor "Morituri" und vor dem algerischen Bürgerkrieg in den neunziger Jahren. Seit Wochen dreht Kommissar Llob im Sommer 1988 in seinem Büro in Algier Däumchen. Den Wunsch seiner Vorgesetzten, mit seinem Untergebenen Lino über dessen neue High Society-Freundin und Geliebte des einflussreichen Haj Thobanes zu reden, ignoriert er. Im Gegensatz zur Bitte seines Freundes Professor Allouche, sich den Namenlosen genauer anzusehen. Der Namenlose ist ein bekannter Serienmörder, der nie seinen Namen verraten hat, und demnächst aufgrund einer Präsidentenamnesie entlassen khadra-nacht-ueber-algierwerden soll. Nach Professor Allouches Ansicht ist er immer noch gefährlich. Llob beobachtet, nachdem er die Entlassung nicht verhindern konnte, den Namenlosen.
Kurz darauf wird ein Anschlag auf Thobanes verübt. Thobanes Chauffeur wird mit Linos Waffe erschossen. Und Lino hat kein Alibi. Trotzdem glaubt Llob an Linos Unschuld. Als bei einem weiteren erfolglosen Anschlag auf Thobanes der Namenlose erschossen wird, könnte der Fall zu den Akten gelegt werden. Denn in seiner Hand ist Linos Waffe. Trotzdem wird Lino nicht entlassen und Llob vermutet ein größeres Komplott.
Zusammen mit der Journalistin Soria Karadach versucht er hinter das Geheimnis des Namenlosen zu kommen und Linos Unschuld zu beweisen. Alle Spuren führen in die Vergangenheit. Im August 1962, in den letzten Tagen des Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich, kam es in einem abgelegenen Ort zu einem Massaker, das anscheinend nur der Namenlose überlebte. Haj Thobanes war zur gleichen Zeit dort gewesen.
"Nacht über Algier" spielt in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in den Monaten vor dem Algerien erschütternden Bürgerkrieg. Den Wahnsinn dieses Krieges verarbeitete Yasmina Khadra in der rabenschwarzen Llob-Trilogie "Morituri", "Doppelweiß" und "Herbst der Chimären". Den Wahnsinn dieses Krieges verarbeitete Yasmina Khadra in der rabenschwarzen Llob-Trilogie "Morituri", "Doppelweiß" und "Herbst der Chimären". Drei extrem kurzen Büchern, in denen feinfühlige kriminalistische Ursachenforschung schon lange einem blutigen Guerillakrieg zum Opfer gefallen war. Am Vorabend dieses Wahnsinns spielt "Nacht über Algier". Noch sind die alten Potentaten an der Macht. Noch herrscht Frieden im Land. Aber unter der Oberfläche brodelt es bereits, die Paladine bringen ihre Gefolgsleute in die richtigen Positionen und Kommissar Llob wird in ihr tödliches Spiel, bei dem jeder mit gezinkten Karten spielt, verwickelt. Gleichzeitig zeigt Khadra, mit welch blutigen Mitteln sich Algerien von den französischen Kolonialherren befreite. Der 1962 beendete Algerien-Krieg ist der Nukleus der späteren Ereignisse.
"Nacht über Algier" ist im Ton ruhiger und in den Erzählungen der einzelnen Charaktere epischer als die Llob-Trilogie. Trotzdem ist Khadras neuestes Werk nicht weniger düster in seiner Weltsicht und der Held nicht weniger machtlos als in den später spielenden Geschichten. Denn bereits 1988 gab es Reiche, die sich das Land zur Beute machten und nur ihre eigenen Interessen verfolgten. In "Nacht über Algier" spannt Yasmina Khadra das Band von Schuld und Sühne über mehrere Generationen.
Khadras neuester Roman ist eine kurzweilige und lehrreiche Lektüre, bei der der düstere Hardboiled-Blick auf ein afrikanisches Land übertragen wird.

Mexiko: Ein Anwalt erlebt

Die Auswirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart ist auch ein für Gabriel Trujillo Muņoz wichtiges Thema. Und auch er hat die Hardboiled-Klassiker genau studiert, um dann etwas ganz eigenes daraus zu machen. "Tijuana Blues" enthält vier Kurzromane mit dem Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Miguel Ángel Morgado, die alle im Grenzland zwischen Mexiko und den USA spielen. Hier, in der Wüste, treffen die Erste und Dritte Welt hart aufeinander und es entwickeln sich immer wieder überraschende Koalitionen und Verbindungen, die mexikoteilweise weit in die Vergangenheit, die verwickelte Geschichte zwischen den USA und Mexiko, zurückreichen.
In "Mezquite Road" (mit knapp 100 Seiten die längste und am ehesten den Spuren einer klassischen Detektivgeschichte folgende Geschichte) soll Morgado den Mord an Heriberto aufklären. Er war ein Spieler, aber die Witwe glaubt nicht, dass er auch ein Drogenhändler war. Noch bevor Morgado mit seinen Ermittlungen beginnen kann, erfährt er, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt wurde.
In "Tijuana City Blues" bittet der gerade sein Büro renovierende Tischler Morgado um einen Gefallen. Er soll seinen vor einem halben Jahrhundert Jahren verschwundenen Vater finden. Damals gehörte er zur Clique um William S. Burroughs.
In "Loverboy" kommt Morgado einer Bande von Organhändlern, die in Mexiko Kinder entführen, auf die Schliche.
In "Laguna Salad" geht es wieder in die Vergangenheit. Morgado soll einen Bericht über die durch die Laguna Salada in die USA flüchtenden Mexikaner schreiben. Zusammen mit einigen Bikern, die das Leben der Flüchtlinge retten wollen, brettert er auf der Jagd nach ihnen durch die Wüste. Dabei entdecken sie das Skelett eines vor einem halben Jahrhundert erschossenen Mannes. Morgado will herausbekommen, weshalb er sterben musste.
Bei seinen Geschichten muss Gabriel Trujillo Muņoz nicht viel beschreiben. Denn bereits munoz-tijuana_blues nach einigen Sätzen haben wir die Landschaft bildhaft vor uns. Es ist die gleiche vor Hitze flirrende Wüste, in der Steven Soderbergh in seinem Ensemblefilm "Traffic" Benicio Del Toro Verbrecher jagen ließ. Genau wie in dem Film sind die Grenzen zwischen Gut und Böse mehr als unklar, die Wüste verschluckt alles und die Vergangenheit kehrt immer wieder zurück. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis die Wahrheit herauskommt.
Muņoz Held, der Menschenrechtsanwalt Miguel Ángel Morgado, ist ein moderner Kreuzritter, der die unmöglichsten Verbündeten hat. Beispielsweise Harry Dávalos, ein ehemaliger DEA-Agent und derzeitiger FBI-Agent, der ihm immer wieder wichtige Informationen gibt – solange die für die USA unangenehme Wahrheit letztlich doch nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Von diesem Fast-Freund und Fast-Feind erfährt Morgado immer wieder einen großen Teil der Wahrheit – soweit es in Mexiko eine Wahrheit gibt.
Bei den trocken-illusionslosen Dialogen – eigentlich bestehen die Geschichten fast nur aus hardboiled-geschulten Dialogen – kann dann schon einmal der Überblick zwischen den zahlreichen, kaum vorgestellten Personen verloren gehen.
Denn Gabriel Trujillo Muņoz hält sich kaum mit langen Beschreibungen auf. Ein, zwei Sätze müssen genügen, der Rest ist pure, komprimierte Handlung. In die kurzen Geschichten presst Trujillo Muņoz nämlich genug Twists für einen zweihunderseitigen Roman.
Gabriel Trujillo Muņoz stößt seinen Helden, den Menschenrechtsanwalt Miguel Ángel Morgado, ein Idealist, der sich keine Illusionen über seine Möglichkeiten, die Welt zu verändern macht, in vier düster-realistische Abenteuer, die gelungen die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden.

Hauptsächlich Asien: Zwei Deutsche blödeln

Auch deutsche Autoren verlassen immer wieder ihre Heimat. Nur unser größter Abenteuerschriftsteller, Karl May, verließ seine heimatliche Schreibstube erst, nachdem er seine Bücher geschrieben hatte.
In den Sechzigern schlug und kalauerte sich Kommissar X durch die verschiedensten exotischen Schauplätze. In den Achtzigern erfreute der Entwicklungshelfer D. B. Blettenberg mit seinem profunden Wissen über die deutsche Entwicklungspolitik, fremde Gefilde und einem genauen Studium der guten angloamerikanischen Polit-Thriller die regenwald.jpgKrimifans. Und heute? Neben der Toskana-Fraktion erkunden deutsche Autoren auch entlegenere Regionen.
Beispielsweise Jürgen Schild in seinem internationalen Polit-Thriller "Miss Klon". Die Geschichte spielt in Asien, Europa und Amerika. Es geht um Genmanipulationen, Prostitution, Frauenhandel und das ganz große Geld. Es geht um den Kampf zwischen dem parapsychologisch begabten Energierat und der Gen-Mafia, die die asiatischen Bordelle mit genetisch sauberen Frauen versorgen will. Und es geht um die beiden deutschen Bernd Wetter ("lebenslustiger Zyniker") und Gisbert Zünder ("heiter gelassener Ethiker"), die ihre von der Gen-Mafia entführte Adoptivtochter Wayan aus deren Klauen befreien wollen.
"Miss Klon" ist eine ziemlich chaotische Hatz von Singapur einmal um den Globus in den Dschungel Kambodschas, die durch die ständigen Kalauer der beiden Helden enervierend zu Lesen ist. Denn anstatt einen halbwegs glaubhaften Plot zu entwerfen, begnügt sich Schild schild-Miss-Klon.jpgmit einer Nummernrevue, die die "Kommissar X"-Romane und Filme zu feinziselierten, logischen Meisterwerken werden lässt und mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten dankbar zur Inhaltsangabe greifen lässt. Denn ohne sie ist die Geschichte kaum nachvollziehbar.
Inwiefern ein ernstes Anliegen, wie die Gefahren der Gentechnik, durch den Kampf zwischen übersinnlich begabten, weltweit operierenden Gruppierungen, zahlreiche Fantasy- und wenige Science Fiction-Elemente sabotiert wird oder nicht, stellt die falsche Frage. Denn gerade sozialkritische S-F-Romane haben viel beigetragen, die Gegenwart besser zu verstehen. Denken Sie nur an George Orwells "1984" oder Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" (ein immer noch beängstigend aktuelles Buch), Joe Haldemans "Der ewige Krieg" oder Norman Spinrads "Champion Jack Barron". Ebenso ist es prinzipiell möglich, ein ernstes Anliegen mit Humor zu verfolgen. Denken Sie nur an Christopher Buckleys "Danke, dass Sie hier rauchen", Martin Amis's "Pfeil der Zeit", Kurt Vonneguts "Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug" (und alle seine anderen Werke), und die Werke von Carl Hiaasen. Es muss nur genügend respektlos und hellsichtig sein.
Aber wenn Sie Kalauer wie diesen:
"Die Asiatin schätzt Geist mehr als Knackarsch. Das bietet sich schon vom Lokalen her an. Wer denkt schon mit den Füßen?"
"Berti Vogts."
Bernd erweiterte seine Pupillen. "Ideal sind natürlich Knackgeister."
"Ich dachte an Geistesknacker."
Bernd nickte, als hätte er so was erwartet. "Vorbeugend nannte ich dir die korrekte Version."
(Schild: Miss Klon, S. 33)
witzig finden, gefällt ihnen vielleicht auch "Miss Klon". Mein Humor ist es jedenfalls nicht.
Das Titelbild "Biomechanoid 75" von "Alien"-Erschaffer HR Giger ist natürlich beängstigend schön.

Links & Bibliographie:

khadra-nacht-ueber-algier Yasmina Khadra:
Nacht über Algier
Originaltitel: La part du mort,
Édition Julliard, 2004
(übersetzt von Frauke Rother)

Aufbau Verlag
2006, 416 Seiten,19.90 Euro



Die Llob-Trilogie:
Morituri, 1997 (Morituri)
Double Blanc, 1997 (Doppelweiß)
L'automne des chimères, 1998 (Herbst der Chimären)
Gebundene Ausgabe bei Haymon-Verlag,
Taschenbücher bei Unionsverlag

Informationen über Yasmina Khadra :
beim Unionsverlag
beim Aufbau Verlag
bei Marabout

munoz-tijuana_blues Gabriel Trujillo Muņoz:
Tijuana Blues
Originaltitel: El festin de los cuervos,
Norma Ediciones, 2002
(übersetzt von Sabine Giersberg)

Unionsverlag
2006, 272 Seiten, 19,90 Euro




Informationen über Gabriel Trujillo Muņoz:
beim Unionsverlag

schild-Miss-Klon.jpg Jürgen Schild:
Miss Klon

EXO Verlag
2005, 240 Seiten, 9,90 Euro



Homepage des Verlages:
www.exo-verlag.de

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Erstellt am 03.05.2006




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Axel Bussmer
Axel Bussmer, Studium der Politologie, Philosophie und Soziologie in Konstanz, lebt derzeit in Berlin und arbeitet an verschiedenen Drehbuchprojekten (u. a. ein Gangsterthriller). Neben Noir-Krimis liebt er Jazz, über den er auch Artikel schreibt. Bei den Alligatorpapieren erscheinen regelmäßig seine TV-Krimi-Buch-Tipps.

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