Rheinischer Merkur. Deutsche Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Kultur. Christ und Welt
Ausgabe: 35/96

30. August 1996

SCHRIFTSTELLER / Klassiker der Kriminalliteratur (III)

Nur Maigret hatte keine Methode


Sie knacken mit ihren grauen Zellen die härtesten Nüsse: Hercule Poirot, Miss Marple,
Nero Wolfe und Philip Marlowe so heißen die unverwüstlichen Helden des
Spannungsromans.

Von PAUL F. REITZE


Kommissar Maigret
auf Verbrecherjagd.

Wenn Monsieur Gaston ein Manuskript glücklich zu Ende
gebracht hatte, trat er in seiner Villa bei Nizza ans Fenster
seines Arbeitszimmers und gab den Nachbarn und Freunden
mit einem Gewehrschuß die glückliche Entbindung bekannt.
Der Schriftsteller Gaston Leroux (1868-1927) brillierte auf verschiedenen
literarischen Feldern, nachdem er eine ererbte Million bei Reisen und
Spiel durchgebracht hatte und mit einemmal zum Broterwerb gezwungen
war. Einer seiner Erfolge war "Le fantome de l'opéra" ("Das Phantom
der Oper", 1910), das in Andrew Lloyd Webbers MusicalVersion ein zweites
Leben erlangt hat. Doch auch unter den Historikern des Kriminalromans hat
er sich Nachruhm erschrieben, mit seinem "Le mystére de la chambre
jaune" ("Das geheimnisvolle Zimmer", 1907). Das Tatzimmer ist nicht nur,
wie in Poes "Morde in der Rue Morgue", von innen verschlossen, sondern
der Täter verschwindet auch noch in einem Flur, an dessen Ende die
Verfolger lauern.
Damit hat Leroux einen ErzählStandard vorgegeben, dem sich kaum einer
der späteren Autoren entziehen konnte (und durfte). Am meisten Witz und
Raffinesse haben dabei neben dem Amerikaner John Dickson Carr (1906-1977),
der fast sein ganzes Schaffen diesem Problem widmete am virtuosesten in
"The Hollow Man" ("Der verschlossene Raum", 1935) , die Briten Dorothy
L. Sayers (1893-1957) und Michael Innes aufgeboten, die Dame in ihrem
letzten Kriminalroman ("Busman's Honeymoon", 1937, deutsch "Hochzeit kommt
vor dem Fall"), der Herr in seinem ersten ("Death at the President's Lodging",
1936, deutsch "Zuviel Licht im Dunkel").


Die Lösung als Dreingabe


So nahe die drei Bücher einander in der Problemstellung und auch in
zeitlicher Hinsicht stehen, liegen doch Welten zwischen ihnen. Dorothy Sayers
gibt Rätsel und Lösung als Dreingabe, wie überhaupt die
Kriminalromanhandlung hier und im thematisch verknüpften vorhergehenden Roman
"Gaudy Night" ("Aufruhr in Oxford", 1935) nur Begleitinstrumentierung ist.
Der OxfordBand spiegelt, in der großen europäischen Erzähltradition
stehend, zuallererst britisches Universitätsleben, darin verwoben
ist eine Liebesgeschichte, die im folgenden Buch zu einem glücklichen
Ende findet. Die Pfarrerstochter (und Konvertitin) bewegt in ihrem letzten
Kriminalroman vor allem die Frage von Schuld und Sühne, sie beschreibt
englisches Landleben mit feinem Stift wie Jane Austen, sie liefert
Gesellschaftssatire durch alle Stände der britischen Klassenrangordnung
sie ist endgültig in die allgemeine Literaturgeschichte eingetreten.
Bei Carr erweitern sich die kriminalistischen Rätsel ebenfalls zu
Welträtseln hin (das ist auch eine Frage der Qualität), doch
er unterstreicht das Artifizielle seiner epischen Versuchsanordnungen.
"Wir sind in einer Kriminalgeschichte", bescheidet sein Detektiv
Dr. Fell die Mitagierenden im "Hollow Man": Jeder spielt, als Puppe
an den Marionettenfäden des Autors hängend, ein Spiel, das nicht
das eigene ist. Das Grauen wird so lange destilliert, bis es zum reinen
Vergnügen dient auch eine Form von Katharsis, jener sittlichen
Reinigung, die Aristoteles der Tragödie zuschrieb. Carrs Geschöpf
Fell diskutiert in diesem Zusammenhang übrigens des langen und breiten
Forderungen aus dessen "Poetik".
Innes sein Roman spielt wie "Gaudy Night" in einer Universität,
in der Folge sollte das bei Briten ein häufiger Schauplatz werden
treibt Carrs Ansatz noch weiter, alles ist ein einziges Vergnügen.
Julian Symons sieht den Autor am Anfang einer ganzen Bewegung, die er als
"Farceure" bezeichnet. Innes, wie mehrere seiner Richtung in einem
zweiten Beruf Professor für Literaturgeschichte, verengt die Frage
von Schuld und Sühne am liebsten zu einem sozusagen philologischen
Problem. Sein Inspektor, der von Ausbildung wie geistiger Statur her sich
auf dem Campus unter seinesgleichen fühlen darf, nennt Alibis "die
wissenschaftliche Dimension der Unterhaltungsliteratur". Noch schärfer
formuliert er gegenüber einem dieser Philologen: "Ihre Wissenschaft
betrifft die physischen Bestandteile eines Buches, und Sie unterziehen
die winzigsten Bruchstücke von Beweisen den komplexesten Untersuchungen,
um Fälschung, Diebstahl, Plagiat zu entdecken ... und das
alles vielleicht vor Hunderten von Jahren. Durch reine Detektivarbeit haben
Sie zum Beispiel herausgefunden, was Shakespeare sich für seine Stücke
angelesen hat."
Die Farceure, im britischen literarischen Kriminalroman heute eine
Großmacht, haben den Scherz so sehr zum durchgängigen Prinzip
gemacht, daß gelegentlich wenig anderes übrigbleibt. Gervase
Fen, OxfordProfessor und Detektiv bei Edmund Crispin (geboren 1921),
bringt diese Mentalität auf den Punkt, wenn er auf einer Verfolgungsjagd
den Rat erteilt: "Fahren wir doch links. Schließlich erscheint
dieses Buch bei Victor Gollancz."
Da mag man sich, am Strand und in der Eisenbahn, zu jenen Autoren zurücksehnen,
die ihre Romane noch mit der Nadel häkelten oder strickten, Masche
für Masche. Über Edgar Wallace (1875-1932) hat Graham Greene
zu Recht bemerkt, daß er besser sei als sein Ruf. Jährlich zirka
250000 Dollar Honorar (seit den zwanziger Jahren) wollten erschrieben
sein. Am Ende des kurzen Lebens standen 150000 Pfund Wettschulden (die
binnen zwei Jahren aus den Tantiemen getilgt waren) auf der Soll und
zirka 180 Kriminalromane auf der Habenseite. Der Erstling "The Four
Just Men" ("Die vier Gerechten", 1905) stellt alles Spätere
in den Schatten: Spannung pur, ohne Geheimgänge, ohne vertauschte
Erben und all den anderen Firlefanz, mit dem Wallace es zustande brachte,
daß über ein Jahrzehnt in Großbritannien jedes vierte ausgeliehene
Buch von ihm stammte. Aber Vielschreiberei bedeutet ja nicht zwingend,
wie das Beispiel eines Balzac belegt, immer schlechte Qualität. Der
Schein kann da leicht auch trügen: Nicht nur in Deutschland sind etliche
WallaceRomane auf die Hälfte (und weniger) zusammengestrichen
worden, um in den ReihenUmfang mit dem Serienpreis zu passen.
"Die vier Gerechten" waren übrigens ein horrender Mißerfolg.
Auch Agatha Christie (1890-1976) hat für ihren Erstling "The
Mysterious Affair at Styles" ("Das fehlende Glied in der Kette",
1920) lange vergebens nach einem Verleger gesucht dabei handelte es
sich um eine der ertragreichsten Goldminen des Jahrhunderts, die da der
Ausbeutung harrte. Der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot, vor den
Deutschen fliehend, hat hier sein literarisches Debüt schon reif
an Jahren ist er, deutlich über 60, mit dem einer Karikatur würdigen
Signalement: 1,50 Meter klein, stark hinkend, mit einem etwas verzogenen
Eierkopf, überdimensionalem Schnurrbart und engen Lackschuhen.
Schon beim zweiten Auftritt ist das Hinken verschwunden Ergebnis
einer ersten schriftstellerischen RehaBehandlung. Der Rest an Auffälligkeiten
dient später in erster Linie dazu, britische Vorurteile zu persiflieren,
selbst Tausende Meilen von der Heimat entfernt noch virulent: "Eine
Sekunde ruhten die Augen des Oberst auf Hercule Poirot und schweiften sofort
gleichgültig weiter. Poirot, der in der englischen Seele zu lesen
verstand, wußte, daß das Urteil hieß: ,Nur irgendein verfluchter
Ausländer.'"


Abschied auf dem Landgut


Um 1945 schrieb Agatha Christie, die unter dem zum Serienhelden
Herangereiften wie Conan Doyle unter seinem Sherlock Holmes litt, Poirot
in den Tod, doch das Manuskript blieb dreißig Jahre liegen. Die Publikation
von "The Curtain" ("Vorhang", 1975) hat die Autorin nur um
wenige Monate überlebt. Seinen Abschied zelebriert Poirot übrigens
wieder auf dem Landgut Styles in Essex, wo er sein Debüt hatte.
Auch mit ihrer zweiten Heldin, Miss Marple, hatte Agatha Christie selbstverschuldetes
Pech. Beim ersten Auftreten in "Murder at the Vicarage" ("Mord
im Pfarrhaus", 1930) befand sich die neugierige DorfSherlockine
schon hoch in den Jahren. Dame Agatha (selbstverständlich für
Verdienste um das Empire geadelt) hat sich fast ein halbes Jahrhundert
damit quälen müssen, Poirot und Miss Marple immer wieder vom
gar zu auffälligen Firnis zu befreien. Der Rest der Zeit und Mühe
hat gereicht, rund achtzig Kriminalromane zu schreiben, von denen gut und
gerne jeder zehnte bis heute auch für höhere Ansprüche lesbar
geblieben ist.
Anfänglich hatte wie die Detektive bei Poe und Conan Doyle
Poirot einen Begleiter, Captain Hastings, der in der IchForm berichtete.
Das war bequem, denn Agatha Christie behält ihre Indizien gerne bis
zum Schluß in ihrem Strickbeutel. Aber schließlich hat sie Hastings
doch nach Übersee, auf eine Farm in Argentinien, verheiratet
weit weg vom Schuß.
Der Amerikaner Rex Stout (18861975) blieb in den allermeisten seiner
über fünfzig Bücher nicht nur seinem Detektiv Nero Wolfe
treu, sondern auch dessen Assistenten und Chronisten Archie Goodwin. Dafür
gibt es zweieinhalb Zentner Gründe das Lebendgewicht des Nero
Wolfe, der für schnödes Honorar seine SesselSonderanfertigung
in Manhattan nie verlassen würde.
Dazu vermögen ihn allenfalls Orchideen oder Kochrezepte, seine
beiden Leidenschaften, zu stimulieren. Nur einmal macht er eine weitere
Reise, in "Too Many Cooks" ("Zu viele Köche", 1937). Der
nahezu immer witzige Goodwin ist hier fast im Übermaß amüsante
Plaudertasche ("Und während er französisch sprach, konnte
ich mich nicht einmal französisch empfehlen"). Sein Schöpfer
Stout hat da später kräftig zurückgeschnitten, so wie er
es bei der Gartenarbeit gelernt hatte.
Auch Raymond Chandler (1888-1959), der witzigste der "Hard boiled"Schule
und mit Dashiell Hammett (1894-1961) deren wichtigster Vertreter,
hat sich da gelegentlich zur Räson gerufen: "Ach Gott, schon wieder
so ein Witzbold; wenn doch nur endlich mal einer käme, der normal
reden könnte!" Beide Autoren predigten zwar Realismus, doch sind
ihre Handlungen weit davon entfernt, diesen Anspruch zu erfüllen.
Die Köpfe ihrer Detektive sind zweifellos härter (im Begreifen
wie im Nehmen), ihre Sprache desgleichen. Aber Chandlers Marlowe verheiratet
sich am Ende auch mit einer Millionärin; möglich, daß sich
die Milieus Richtung GentlemanDetektiv nur deswegen nicht angeglichen
haben, weil Chandler über dem ersten Band dieser neuen Lebensphase
seines Helden verstarb...
Chandler und Hammett haben mit ihrem Landsmann S. S. Van Dine (1888-1939)
einen bis dahin sehr erfolgreichen Autor in den USA (zunächst) zurückgedrängt;
er war ein gebildeter, penibler Mann, der Richtung nach ein Vertreter eher
der britischen, betont fairen Schule. Sein Held Philo Vance beschlagen
in allen Natur und Kunstwissenschaften, promoviert mit einer Arbeit
über Schopenhauer übertrumpft fast noch an Geschmack und
Wissen Dorothy Sayers' Lord Peter (dessen allerfrühestes Wirken Vances
geistiger Vater zur Kenntnis genommen hat).


Erwanderte Wahrheit


Und Maigret? Der betrat, würdig einer ganzen Salve aus
Monsieur Gastons Fenster, den Plan. Georges Simenon (1903-1989) schrieb
ab 1929 in nur 19 Monaten zum Auftakt 19 Romane um seinen Pariser Kommissar
Jules Maigret, der Verlag mühte sich rechtschaffen ab, bis 1934 der
ManuskriptBerg endlich abgetragen war. Der Autor produzierte, das Tempo
allmählich drosselnd, bis 1973 weiter, insgesamt etwa 80 MaigretTitel
neben vielem sonst.
Der Held verkörpert einen völlig anderen Typus, er deduziert
nicht wie all die vielen Detektive von Holmes bis Wolfe, er erwandert,
erriecht, erfährt die Wahrheit. Das ist mehr als nur ein neuer
Ton. Am schönsten vielleicht ist "Mon ami Maigret" ("Mein
Freund Maigret", 1949), ein Roman, in dem der Franzose einen Kiebitz
von Scotland Yard beigesellt bekommt, der seine Arbeitsweise studieren
soll, "dabei hatte Maigret gar keine Methode". "Jetzt darf
ich mich auf keinen Fall blamieren", denkt der Kommissar. Währenddessen
fühlt er des Briten Blick auf sich ruhen "wie das Auge Gottes in
der Geschichte von Kain und Abel".

Die vorherigen Folgen der dreiteiligen Serie:

Meister des spannungsgeladenen Fachs. (1. Teil)
Die Welt im Sherlock-Holmes-Fieber (2. Teil)

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