Und dann ist der Erzähler ding.
Über die Sprache zeitgenössischer Kriminalromane

Von Leopold Federmair

Aus der Zeitschrift Merkur, Nr. 656, Dezember 2003

»Montalbano weigert sich«, steht über einer der Erzählungen von Andrea Camilleri. In dieser Geschichte, die nicht nur für die Dialoge, sondern auch für die Erzählerstimme beim sizilianischen Dialekt Anleihen nimmt, ist Kommissar Montalbano mit besonders widerlichen Verbrechen konfrontiert. Ein älterer Mann hat ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet; ein perverses Duo verspeist menschliche Augen; und, vielleicht am schlimmsten, wenn auch die üble Szenerie nur begleitend: ein Besoffener pinkelt auf einen Obdachlosen, der in einem Karton schläft. Montalbano weigert sich. In einer Welt der sadistischen, sinnlosen, rational nicht erfaßbaren Grausamkeit fühlt er sich fehl am Platz. Er geht zu einer Telefonzelle – »wundersamerweise« funktioniert der Apparat – und ruft den Autor an.
Eine pirandellianische Situation, im literaturgeschichtlichen Kontext vor hundert Jahren wohl avantgardistisch, heute nur noch ein netter Gag: »Hier Montalbano. Was machst du?« »Du weißt nicht, was ich tue? Ich schreibe gerade die Erzählung, in der du die Hauptfigur bist ... Von wo aus telefonierst du?« Mit ironischem Unterton beklagt sich der Autor: Manche Kritiker meinen, er sei einer der Gutmenschen, der süßliche, leicht durchschaubare Geschichten schreibt. Jetzt versuche er, sich den neuen Zeiten anzupassen. Ein bißchen Blut habe noch niemandem geschadet. Aber Montalbano macht nicht mit: Camilleri soll sich für diese Geschichte eine andere Figur suchen. Damit wäre die pirandellianische Konstellation umgedreht. Die Figur flieht ihren Autor ...
In Das ewige Leben1 von Wolf Haas taucht am Ende einer Serie von sechs Romanen der bis dahin unsichtbare, niemals ins Geschehen eingreifende Erzähler auf. Es ist überraschenderweise der stille Hausgeist, der seit ewigen Zeiten ein Mansardenzimmer im Haus von Brenners Großmutter bewohnt. Brenner, das ist der österreichische Polizeiinspektor, später dann Privatdetektiv. Der Erzähler kann nicht mit ansehen, daß ihm sein Protagonist ausgelöscht wird, deshalb mischt er sich ein. Aber offenbar ist es mit Brenner jetzt doch zu Ende, nach einem Showdown, der trotz aller Gemächlichkeit seine Verwandtschaft mit den Terminator-Filmen weder verleugnen kann noch will.
Die Ironie dabei ist, daß Haas die Hauptfigur loswerden will, indem er seinen Erzähler auf die Bühne treten läßt. Dessen Rettungsaktion steht im Dienst eines narrativen Reinemachens nach all den unwahrscheinlichen, pseudorealistischen Geschichten. Tabula rasa. Ganz am Ende der Krimiserie breitet sich das vielfach wiederholte Wort »ding« wie ein Leichentuch über die Szene. »Ding«, das immer passende Jokerwort, mit dem man alles und nichts sagen kann. Ding ist das Um und Auf von Haas' Brenner-Poetik, einerseits weil es die für ihn charakteristische sprachliche Wendigkeit erlaubt und symbolisiert, andererseits weil es aus der gesellschaftlichen Natursprache kommt. Genau dieses Wort verwenden Erzähler in ihrem Erzählalltag im Salzburgischen oder Oberösterreichischen gern, wenn ihnen das »richtige« Wort nicht einfällt oder die direkte Benennung peinlich ist.
Nicht die phonetische Differenz zur Schriftsprache wie in Camilleris Büchern, sondern der systematische Rückgriff auf gängige Sprach- und Erzählformen kennzeichnet die Serie der Brenner-Krimis. »Oder jetzt ...«, »du mußt wissen ...«, »jetzt warum ...«, »aber ob du es glaubst oder nicht ... « – so sehr man die Kunstfertigkeiten des Autors bewundern mag, so sehr schöpft er doch aus der Volkssprache. Einer Volkssprache, die nicht nur regional, sondern auch zeitlich bestimmt ist. Die sechziger und siebziger Jahre samt ihren Modernisierungen und fremdländischen Einflüssen haben am meisten Spuren hinterlassen. Es sind die Kindheits- und Jugendjahre des Autors.
Die Kriminalerzählung als solche ist ein universalistisches Genre. Der Fall, der im Verlauf einer Erzählung zu lösen ist, fordert die menschliche Verstandestätigkeit heraus. Deshalb auch die Nichtzuständigkeitserklärung Camilleris und seines Kommissars, wenn es um einen Fall und letztlich um eine Welt geht, die zwar globalen Parametern, aber nicht mehr den universalen Denkmustern von Ursache und Wirkung zu folgen scheint. Camilleri ist und bleibt sprachlos angesichts des Show-Terrorismus vom 11. September wie auch vor dem weltweit verbreiteten sexuellen Kindesmißbrauch. Die abendländische Rationalität hat hier ausgespielt, und mit ihr das Krimigenre, jedenfalls in seiner traditionellen, das heißt modernen Form.
Unter Berufung auf Werner Heisenberg macht Camilleri den Sieg der Technik über die Rationalität (die sie ursprünglich ermöglicht hatte) für das Desaster verantwortlich. Allerdings haben Krimiautoren wie Leonardo Sciascia bereits gezeigt, daß das Krimigenre der Krise der Rationalität begegnen kann, indem es sich aus freien Stücken in eine literarische Krise begibt. Davor scheut sich Camilleri, und die Kritik, über die er sich ironisch beklagt, hat möglicherweise doch recht: Camilleris Romane sind in ihrer Denkweise gemütlich, ganz egal, ob Blut fließt oder nicht.
Das Blut fließt bei Wolf Haas in Strömen, und das ist nicht erschütternd, sondern lustig. Seine Geschichten, die oft realistisch beginnen wie die gediegenen Kriminalerzählungen der angelsächsischen Tradition, heben um so mehr ab, je länger er sie fortspinnt. Sie werden unrealistisch, surrealistisch, inkohärent, opernhaft – und führen das Genre auf solche Weise in die Krise, denn der Realismus, das Postulat der Entsprechung zwischen der Welt und ihrer Darstellung, leitet sich aus den rationalistischen Grundannahmen ab. Dabei kann es geschehen, daß jenes andere Merkmal der Kriminalerzählung, das ihren Universalismus gleichsam austariert, nämlich die detailfixierte Milieuschilderung, sich verselbständigt und die Konstruktion des Ganzen ins Wanken bringt.
Dekonstruktion ist das, was Wolf Haas betreibt, ohne philosophische Ansprüche zwar, nur aus Lust am Verbiegen des Gegebenen. Man kann darin sogar eine Parallele zu einem gegenwärtigen gesellschaftlichen Vorgang sehen: Mit fortschreitender Globalisierung wächst das Bedürfnis nach lokaler, punktueller Orientierung. Je mehr Schematik, je mehr immergleiche Fernsehprogramme, je mehr von all dieser nervenden Scheinvielfalt, desto drängender der Wunsch nach Beschränkung auf das Eigene, das Bestehen auf dem, was es hier und sonst nirgends gibt, wobei der Wert des Hiesigen nicht mit der Frage nach dem Guten und Schönen zusammenhängt, sondern mit seiner faktischen Einzigartigkeit jenseits aller spätreligiösen Diskussionen über die Aura des Werks.
Jimi Hendrix ist bei Wolf Haas so ein profanes Emblem, eine halb beliebige, halb generationsspezifische, halb persönliche Ikone der Popkultur, die sich mittlerweile in eine Oldiekultur für alternde Singles verwandelt hat, autobiographisches Erkennungszeichen eines identitätsschwachen Ex-Polizisten, der nicht einfach, wie Montalbano, auf der Seite der Ausgebeuteten steht (»Dottore, ich hab's ja immer schon geahnt: Sie sind ein Kommunist«), sondern mal hier, mal dort, Gelegenheitskiffer und Gelegenheitsbankräuber, nur so zum Jux, aber auch illusionslos, was die gute Gesellschaft und die lokalen Mafien betrifft, die sich anscheinend ebenfalls, unter Beibehaltung regionaler Besonderheiten, globalisiert haben.
Es gibt nicht nur universale Erzählprinzipien im traditionellen Krimigenre, sondern auch eine tendenziell universale Krimisprechweise. Schlagfertigkeit einerseits, bedächtiges Insistieren andererseits; männliche Lässigkeit sowie die Neigung, geschwind einmal nach dem Sinn der Welt zu fragen. Auch der Austriazismus des Wolf Haas – ich verwende den Singular, weil es sich um einen auf einer Grundsatzentscheidung fußenden und durchgehaltenen Austriazismus handelt – ist eine lokale Variante solcher Sprechhaltungen. Er betrifft einerseits die Syntax, die Verwendung des Perfekts, und macht in dieser Beziehung über sechs Bücher hinweg kaum eine Ausnahme; er betrifft andererseits die bereits erwähnten Erzählformeln und Ausdrucksweisen, in denen sich eine aus den herkömmlichen Fugen geratene, aber trotz allem inmitten der zahllosen Vermischungen noch identische, identitätsstiftende Welt kundgibt.
»Mein lieber Schwan« ist ein alter Kommentarsatz aus ländlichen Gegenden, der Staunen ausdrückt oder Nachdruck verleiht, und er paßt durchaus in die Nachbarschaft von Fragmenten aus der Sprache der Psychologie, Esoterik und Popkultur. Zum Beispiel hier: »'Welche Musik magst du denn?', hat der Brenner gefragt. 'Jimi Hendrix.' Mein lieber Schwan ...«
Derlei Ausdrucksformen findet man auch in Camilleris Krimis und historischen Romanen, nur daß hier die dialektale Umgangssprache im wesentlichen auf die Dialoge begrenzt ist und der Figurencharakterisierung dient: je volkstümlicher eine Figur, desto mehr redet sie im Dialekt; je emotionaler die Aussage, desto eher geht das Sizilianische über die Lippen. In Die Form des Wassers2 ruft einmal eine alte Frau nach ihrem Mann: »Turiddru! Turiddru! Veni di cursa ccà, komm schnell her!« Der Übersetzer Schahrzad Assemi läßt den Dialekt stehen und gibt dann die sinngemäße Übersetzung, ehe er hinzufügt: »Je mehr sie sich aufregte, desto breiter wurde ihr Dialekt.«
Dieser Satz steht natürlich nicht im Original, dessen Leser solche Abstufungen ohnehin mitbekommt. In der Übersetzung gehen die Abstufungen unweigerlich verloren; gelegentlich eingestreute Kraftausdrücke zeugen eher von Hilflosigkeit als von stilistischer Feinarbeit. Von Camilleris Büchern bleibt im Deutschen das leicht verdauliche Produkt eines universalen Genres, dazu ein bißchen Lokalkolorit. Im italienisch-sizilianischen Original knüpfen die zu großen Teilen aus Dialogen bestehenden Montalbano-Krimis an die Tradition der sizilianischen Volkskomödie an, wie so manches Werk Pirandellos, der einige seiner Dramen im sizilianischen Dialekt verfaßte.
Bei Wolf Haas oder seinem österreichischen Kollegen Franzobel geht die Volkstümlichkeit, geht die Aufmerk�samkeit für die Poetik der Umgangs�sprache einher mit ihrer Verwurzelung im Bereich der sprachbewußten Avantgarde. Der eigentliche literarische Coup der Brenner-Krimis ist nach meinem Dafürhalten die Schaffung eines höchst merkwürdigen Erzählers, der den Leser anspricht, als wäre er ein Thekensteher in einem dieser kleinen Vorstadtlokale, die nicht Kaffeehaus, nicht Wirtshaus und nicht Pub sind, wo eine gewisse Spezies des kleinen Mannes vor seinem ewigen Bier ausharrt, Geschichten erzählend oder das Zeitgeschehen kommentierend.
Dieser Erzähler, auch wenn er, abgesehen vom letzten Kapitel des letzten Brenner-Romans, nicht ins Geschehen eingreift, erhält allein durch seine Art des Redens imaginäre Konturen, auch wenn er sich jeder deskriptiven Bestimmung entzieht. Sicher nicht mit dem Autor identisch, ist er auch nicht der notorische Kleinbürger, über dessen Ansichten man (als aufgeklärter Mensch) nur die Nase rümpfen könnte. Seine Kommentare wurden als »philosophisch« eingestuft. Mir scheint eher, daß es sich um gängige Lebensweisheiten handelt, um Versatzstücke einer bunt zusammengeflickten, anpassungsfähigen Ideologie, die sich mit keinem Schlagwort benennen läßt und neben Stereotypen manchmal auch ein paar Wahrheiten und überraschende Beobachtungen zutage fördert, ohne deshalb tiefgründig zu werden.
Daß Haas den Erzähler am Ende mit dem Hausgeist identifiziert, scheint mir nicht die Konsequenz erzählerischer Konstruktion zu sein, sondern eine Notlösung des Autors auf der Suche nach einem unwiderruflichen Schlußakt – wie überhaupt die Situationskomik und der Sprachwitz die konstruktiven Erzählansätze immer wieder unterlaufen, ja zunichte machen. Nicht dem philosophischen Moralismus oder dem Rationalismus der klassischen Kriminalerzählung ist diese Literatur verwandt, sondern dem Kabarett, das in Österreich in allen möglichen Varianten vorkommt, vom Witz im Sinne kritischen Scharfsinns bis zur gnadenlosen Blödelei, vom traditionellen Schmähführen bis zur krampfhaften Lustigkeit gewisser Radiosender. Es ist daher kein Zufall, daß Josef Hader, einer der intelligentesten Kabarettisten des Landes, in der Verfilmung von Komm, süßer Tod den Brenner spielt.
Immer wieder werden Krimiautoren zu Gefangenen der von ihnen geschaffenen, im Lauf der Zeit populär gewordenen Detektiv- und Kommissarfiguren. In dem Interviewbuch La linea della palma (2002) erzählt Camilleri, wie der Marseiller Jean-Claude Izzo sich von seinem Kommissar zu lösen versuchte, und auch der Katalane Vázquez Montalbán hat Camilleri zufolge von seinem Geschöpf längst genug. Bei Haas scheint es nicht nur um die Verabschiedung einer Figur, sondern um die Lösung von einem Genre zu gehen, das ihm zum Ausagieren seiner sprachspielerischen Lüste gedient hat. Auf der einen Seite ermöglicht der Kriminalroman den Zugang zur breiten Masse der Leserschaft und sogar zur Nichtleserschaft, auf der anderen Seite schränkt er das literarische Aktionsfeld ein.
Camilleri hingegen scheint unter dem Wiederholungszwang des Krimigenres nicht zu leiden, er reibt sich vielmehr an einer gesellschaftlichen, sagen wir: postmodernen Entwicklung, die das Wiederholen traditioneller Muster – die großen, sinnvollen Erzählungen – problematisch macht. Vielleicht läßt sich in geschichtlicher Perspektive auch das Krimischreiben nicht ungebrochen fortsetzen. Ich denke mir die Leser des 1925 geborenen Camilleri als solche, die noch auf positive Werte und Gefühle setzen, während die des 1960 geborenen Haas an solche Märchen nicht mehr glauben und sich lieber an popliterarischer Dekonstruktion delektieren.

Aus der Zeitschrift Merkur, Nr. 656, Dezember 2003

Für die Genehmigung zur Veröffentlichung bedanken wir uns herzlich beim Merkur und bei Leopold Federmair!


1 Wolf Haas: Das ewige Leben. Hamburg: Hoffman und Campe 2003.
2 Andrea Camilleri: Die Form des Wassers. Bergisch-Gladbach: Lübbe 1999.



Leopold Federmair

Geboren 1957 in Wels/Oberösterreich.
1975-1985 Studium der Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. 1985 Promotion zum Dr. phil. 1985-1993 Lektor für deutsche Sprache in Frankreich, Italien und Ungarn. Seit 1989 regelmäßige Aufenthalte in Lateinamerika. Seit 1993 freiberuflicher Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer aus dem Französischen – u.a. Michel Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone" –, Spanischen und Italienischen. 1997 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Lebt in Wien.

Preise und Auszeichnungen
1993 Übersetzerprämie des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst
1999/2000 Projektstipendium für Literatur des Bundeskanzleramts

Veröffentlichungen:
Das Exil der Träume, Roman, 1999
Kleiner Wiener Walzer, 2000,
Die kleinste Größe, Essays, 2001
Dreikönigsschnee, Erzählung, 2003

Alle erschienen in der Edition Selene